Kunstverein Reutlingen
Liebe Anike,
bereichert durch die Fragen anderer Künstler*innen und der Teilnahme der Institution an deiner Umfrage, lässt sich (unter Vorbehalt) Folgendes sagen:
Die Institution selbst basiert auf der Mitgliedschaft, die in den meisten Fällen eine sehr aktive Mitgliedschaft ist. Das heißt, die Mitglieder sind wirklich engagiert und wollen sich einbringen. Sie stützt sich in hohem Maße auf die Mitarbeiter und den Vorstand–auf die bestehenden institutionellen Strukturen. Dies könnte darauf zurückzuführen sein, dass Künstler*innen im Vorstand oder Beirat mitarbeiten, wo die Entscheidungen getroffen werden. Der Vorstand ist zwar die Vertretung der Mitglieder, aber es scheint keine Auskunft darüber zu geben, wie er mit der Mitgliedschaft arbeitet. Abgesehen von den Mitgliederversammlungen scheint es keine Räume zu geben, in denen man sprechen, zuhören und gehört werden kann. Vielleicht geheime? Du kannst nicht davon ausgehen, dass Angestellte ihre Bedürfnisse und Fragen zu Gehör bringen können. Der fehlende Raum dafür wirft Fragen zu hierarchischen/patriarchalen/rassistischen/ableistischen/adultistischen Strukturen innerhalb der Institution auf.
Dein künstlerisches Vorhaben wird von der kuratorischen Leitung unterstützt, die dich wahrscheinlich auch eingeladen hat. Ob sie die Autonomie über ihr Programm hat, ist nicht klar–was ein schlechtes Zeichen ist. Die kuratorische Leitung wird nicht von einem unabhängigen, künstlerischen und vielfältigen Ausschuss selbst ausgewählt. Aber sie hat eine sichere Arbeitsstelle und könnte es wagen, sich für dich einzusetzen. Du kannst begeistert sein und dich wohlfühlen, weil du in einem nachhaltigen und konstruktiven Umfeld offen Kritik üben und mitarbeiten kannst. Die kuratorische Leitung geht mit gutem Beispiel voraus.
Die Institution ist kein Kunstblase, auch tagesaktuelle politische und soziale Themen werden laufend diskutiert. Die Institution versteht sich selbst als ein internationaler Ort. Die Institution versteht sich als ein Ort, der immer wieder neu genutzt oder verändert werden kann, wozu immer wieder neuer Input benötigt wird. Sie ist an gesellschaftlich und politisch informierter Kunst interessiert, die gut aussieht. Das kann man nicht übel nehmen, aber wie groß das tatsächliche Interesse an gesellschaftlichen Fragen ist, ist schwer zu sagen. … De_koloniale Theorien und kritische Theorie spielen in ihrem Programm eigentlich keine Rolle. Was deren Umsetzung in den eigenen Strukturen angeht, brauchst du keinerlei Illusionen zu erliegen. Sie wollen in ihren Ansichten herausgefordert werden. Du hast einen Job angenommen und musst dich wirklich in die Institution eindenken. Sie erwarten eine enge Zusammenarbeit. Organisiere dir eine Assistenz! Dafür unterstützen sie dich, falls du juristische Probleme auf Grund deiner Inhalte bekommst. Wenn du Themen ansprichst, die der Institution nicht passen, kannst du trotzdem auf ihre Unterstützung vertrauen. Du musst dich aber auf einen anstrengenden Aushandlungsprozess gefasst machen.
»Wir wissen, dass es schwer ist: schwer zu überleben, schwer zu handeln. Es ist schwer, in einer Kunstwelt, die von ihrer eigenen Obszönität gelangweilt ist, für das Grauen sensibel zu bleiben. Die profitgierigen Reichen amüsieren sich über unsere Frömmigkeit und verlangen, dass wir gegenüber ihren Vergnügungen pietätvoll sind. Vor dem Hintergrund prestigeträchtiger Trägheit und ermüdeter Kritik kann es schwer sein, unsere wichtigsten Gefühle zu mobilisieren: unsere Wut, unsere Liebe und unsere Trauer. Wir wissen, dass diese Gesellschaft von Ungerechtigkeiten und brutalen Paradoxien zerrissen ist. Konfrontiert mit dem konkreten Profiteur staatlicher Gewalt, finden wir uns auch in einer Situation wieder, in der wir handeln müssen. Es ist kein einfacher Ort. Aber wir müssen lernen–wieder oder zum ersten Mal–Nein zu sagen«. (Hannah Black, Ciarán Finlayson und Tobi Haslett in ihrem Essay »The Tear Gas Biennial«, veröffentlicht in Artforum).
Die Institution ist nicht an Lösungen und Methoden interessiert, die die aktuelle Kulturlandschaft durch Reparationsmodelle unterstützen würde. Und auch nicht daran als kultureller und sozialer Zeuge, und mit lokalen Strategien und Strukturen, die auf Gewerkschaftsmodellen und Commons/Dezentralisierung beruhen, Problemen des kollektiven Handelns entgegenzuwirken. Sie ignoriert ihre eigene Vergangenheit. Als auch keine Zukunft. Oh, oh.
Da wir bereits über Verpflichtungen sprechen: die Förderung der Institution kommt aus öffentlichen und privaten Geldern. Du magst das für eine gute Sache halten, aber hinter diesem Geld stehen immer Absichten. Es scheint, dass es bisher keine Fälle von Zensur gegeben hat in Bezug auf Themen wie Palästina, BDS und alle Themen, die die finanziellen Unterstützer in ein schlechtes Licht rücken. Ich nehme an, sie haben es einfach perfekt vertuscht. Die Institution kämpft kreativ gegen alle Regeln und Vorschriften, die deine künstlerische Freiheit einschränken. Die Institution ist daran interessiert, transformative Veränderungen voranzutreiben, einschließlich finanzieller Transparenz. Ihr Ziel ist es, zu einem dekolonisierenden Ansatz beizutragen und sie fasst dies als langfristige Herausforderung auf. Die Institution leitet maßgebliche Schritte ein, um sich gemäß der Befürfnisse des Publikums zu transformieren, hin zu einem Ort des Widerstands und des gesellschaftlichen Wandels.
Die Gesprächskultur ist weitgehend transparent und sehr respektvoll. Konflikte und Meinungsverschiedenheiten werden gewertschätzt. Es könnte also hitzig werden, aber sie engagieren sich auch für die Lösungsfindung. Sie sind sensibel für die Sprache, aber vielleicht nicht für deren Gebrauch. Ihr Verständnis, was Diversität bedeuten könnte, ist an einer wirklichen Inklusion orientiert. Es gibt zumindest Potenzial. Sie wissen dich vielleicht zu schätzen, da sie Diversifizierung als eine Verpflichtung verstehen. Sie werden dir deine eigenen Annahmen in Bezug auf Rassismus, Sexismus und Homophobie widerlegen. Du wirst überrascht sein! Du wirst auf Menschen treffen, die sich mit dem Thema »Rasse« auseinandergesetzt haben. Es gibt ein Bewusstsein für Klasse. Es gibt ein Bewusstsein in Bezug auf Gender-Themen.
Erstaunlicherweise gibt es ein Verfahren für alle Beschwerden oder schlechten Erfahrungen, die du innerhalb der Einrichtung machen wirst. Leider kannst du nicht darauf vertrauen, dass Vorfälle von Diskriminierung und Aggression auf konstruktive Weise behandelt werden, ohne die Betroffenen erneut zu traumatisieren. Im Falle von sexuellem Missbrauch bist du auf dich alleine gestellt und bekommst keinerlei Unterstützung von der Institution. Erwähne es besser erst gar nicht und suche dir externe Hilfe. Es gibt keinen juristischen Beistand, den du in Anspruch nehmen könntest, und keine Verfahren im Falle einer Beschwerde oder eines Konflikts, den du haben könntest. Wenn du eine Mediation benötigen solltest, müsstest du diese sehr wahrscheinlich aus deiner eigenen Tasche bezahlen. Die Institution hat noch kein Anti-Rassismus-Training gehabt, was ein Anfang wäre, um eine integrativere Einrichtung zu werden. Bei den Umfragebeteiligten besteht auch nicht wirklich das Interesse daran. Es gab kein anderes Sensibilisierungsangebot. Ihr Verständnis von Zugänglichkeit ist an einer wirklichen Inklusion orientiert. Es gibt zumindest das Potenzial. Die Zugänglichkeit des Ortes ist fraglich. Du bist für dein eigenes Wohlergehen in der Zusammenarbeit selbst verantwortlich. Die Institution nimmt keine Rücksicht auf dein psychisches Wohlbefinden. Sie erwarten von dir, dass du neurotypisch funktionierst. Sie haben keinerlei Bewusstsein für rassistische Erfahrungen von BIPoC-Künstler*innen. Erwarte nicht, Ansprechpartner*innen und Unterstützung zu finden. Wenn du planst, andere nicht-deutschsprachige Künstler*innen als Kollaborateur*innen mitzubringen, kannst du sicher sein, dass sie von der Institution eingebunden werden. Bei den Eröffnungsreden wird sich die Institution nicht um eine Übersetzung kümmern. Obwohl das Programm sehr international ist, spiegelt sich diese Vielfalt nicht in den Mitgliedern und der Belegschaft wider. Lass dich nicht von der Optik des Programms täuschen!
Auch was die Künstler*innenhonorar angeht, würde ich nicht zu viel erwarten.
Der Institution sind Leitlinien für Ausstellungshonorare, z.B. die Honorarvorschläge des BBK, eher etwas Unbekanntes. Lass es besser bleiben! Ob du einen verhandelbaren Vertrag bekommst, bevor du mit deinem Ausstellungsprojekt beginnst, ist von der kuratorischen Leitung abhängig. Wie viele andere Kunstinstitutionen auch, erkennen sie die prekäre Situation offenbar nicht wirklich an, in der sich die meisten Künstler befinden. Die Arbeitsbedingungen beuten jeden aus, der in dieser Einrichtung arbeitet. Es gibt bestimmt schlecht bezahlte Praktika. Erwarte nicht, dass sie irgendwelche Ressourcen für die Gastfreundlichkeit und dein Wohlergehen haben. Du wirst dich höchstwahrscheinlich selbst um Presseangelegenheiten kümmern müssen. Die Institution wird sich nicht um fälschlich veröffentlichte Informationen über dich und deine Arbeit kümmern und dir keine Hilfe anbieten. Du wirst auch nicht ernsthaft an den öffentlichen Medien über deine Ausstellung beteiligt sein. Zensur könnte stattfinden. Dass die Arbeitsbedingungen von Künstler*innen ein großes Problem sind, ist ihnen bewusst. Es sollte endlich eine Gewerkschaft für Künstler*innen geben. Aber sie schätzen grundsätzlich die Arbeit von Künstler*innen, und was sie zur Institution beitragen. Sie werden Bereitschaft zeigen, auf deine Bedürfnisse einzugehen. Die Institution sieht sich letztendlich als einen Ort der Erprobung neuer Formen der Zusammenarbeit und Strukturen.
Als Künstler*in heißt es: arbeiten arbeiten arbeiten arbeiten arbeiten–hustle hustle hustle, mahlen mahlen mahlen.
P.S.: 15 Mitglieder von etwa 336, 2 von 12 aus dem Vorstand, 1 aus der künstlerische Leitung und 3 von 18 Angestellten, Freelancer*innen, Praktikant*innen oder Künstlerin*innen der aktuellen Ausstellung haben an der Umfrage teilgenommen. Das lässt dich in etwa Einschätzen wie repräsentativ mein Rat ist.